Dienstag, 22. Dezember 2009

Wie Kriegsbefürworter zu Kritikern mutieren

von Knut Mellenthin (Junge Welt)

Das Massaker von Kundus hat ein Wunder bewirkt, das SPD und Bündnis 90/Die Grünen sehr entgegenkommt: Die Verantwortlichen für Deutschlands Beteiligung am Afghanistan-Krieg können sich plötzlich als kritische Opposition aufspielen. Dabei war es die von Gerhard Schröder und Joseph Fischer geführte »rot-grüne« Regierung, die 2002 erstmals Bundeswehrsoldaten nach Kabul schickte und auch für die folgenden Erweiterungen des Mandats verantwortlich war. Die Grünen wurden 2005 in die Opposition geschickt, während die SPD sogar noch während des Kundus-Massakers zusammen mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung war.

Die jetzt von SPD-Politikern vorwurfsvoll gestellte Frage, »was die Regierung wußte«, müßte sich also auch an ihre eigenen Leute richten. Darunter vor allem an den damaligen Außenminister und heutigen Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Dies umso mehr, weil er zuvor sechs Jahre lang (1999 bis 2005) Chef des Bundeskanzleramts und damit auch politischer Koordinator der deutschen Geheimdienste war. Er verfügt also über hervorragendes Machtwissen und hat wahrscheinlich immer noch zahlreiche Kontakte zu den Diensten. Bei einem solchen Mann stellt sich nicht nur die Frage, was er zu einem sehr frühen Zeitpunkt über alle Hintergründe des Massakers mit mehr als 140 Verbrannten wußte, sondern im Zweifelsfall auch, was er zumindest hätte wissen können, wenn er gezielt gefragt und nachgeforscht hätte. Falls Steinmeier jetzt behaupten sollte, er habe damals als Außenminister nicht mehr gewußt und erfahren als normale deutsche Zeitungsleser, sollte er anständigerweise seine unverdient kassierten Gehälter einem guten Zweck, beispielsweise den Hinterbliebenen der Opfer von Kundus, zur Verfügung stellen.

Mehr oder weniger gilt das aber auch für den gesamten deutschen Bundestag. Daß der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) log und daß ein deutscher Oberst in vollem Bewußtsein einen rechtswidrigen Luftangriff ohne Rücksicht auf die Anwesenheit zahlreicher Nicht-Kombattanten angeordnet hatte, war schon zwei Tage nach den Ereignissen, also am 6. oder 7. September, offensichtlich. Es erhob sich jedoch keineswegs ein Sturm von Protesten und bohrenden Nachfragen im Hohen Haus in Berlin, und von diesem Vorwurf kann man ehrlicherweise auch die Linken nicht ganz ausnehmen. Die parlamentarische Kriegskoalition aus Union, SPD und Grünen spielte zusammen, um das heikle Thema aus der bevorstehenden Bundestagswahl (27. September) herauszuhalten. Auch danach gab es von der SPD und den Grünen, die nun in der Opposition vereint waren, keine erkennbaren Initiativen, um die Aufklärung des Massakers voranzutreiben.

Die Wende kam erst durch die Enthüllungen von Bild Ende November. SPD und Grüne entdeckten plötzlich die »gezielten Tötungen« als Problem. Daß diese von der Leitmacht des westlichen Bündnisses, den USA, die auch das mit Abstand stärkste Kontingent in Afghanistan stellen, schon seit Jahren ganz offen und in großem Umfang praktiziert werden, scheint den frischgebackenen Kriegskritikern entgangen zu sein. Der Krieg auf dem »afghanisch-pakistanischen Schauplatz« ist ein Verbrechen, und er wird mit verbrecherischen Mitteln geführt. Nicht erst seit den Luftangriffen nahe Kundus.

Ein Bayer in Afghanistan – Kriegsminister Guttenberg (M.) am Freitag im Bundeswehrlager Kundus
Foto: AP

 

»Wenig Humanmaterial«

»Feldjägerbericht« der Bundeswehr zum Massaker in Kundus im Internet veröffentlicht. Ziel war der »Verschlußsache« zufolge, so viele Menschen wie möglich umzubringen.
von Knut Mellenthin

Die Wahrheit über das Bundeswehr-Massaker in der nordafghanischen Provinz Kundus kommt nur in Bruchstücken ans Licht. Die Bundesregierung hat zwar »Transparenz und Aufklärung« (Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg) versprochen, hält aber sogar die schon vorliegenden Berichte immer noch unter Verschluß. Der Untersuchungsausschuß des Bundestags, der am Mittwoch seine Arbeit aufnimmt, soll voraussichtlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen. Warum sich nicht wenigstens die Fraktion Die Linke mit vollem Nachdruck für die Forderung nach Veröffentlichung aller Berichte stark macht, bleibt unverständlich.

Seit Montag ist immerhin ein Teil des sogenannten Feldjägerberichts im Internet nachzulesen. »Wikileaks«, eine Gruppe von Aktivisten, hat ihn unter 88.80.16.63/leak/de-isaf-cas-kunduz-sep09.pdf online gestellt. Allerdings fehlen mindestens 20 Seiten aus der Akte. Das Dokument trägt neben dem üblichen Geheimhaltungshinweis Verschlußsache »VS – Nur für den Dienstgebrauch« auch den seltsamen Vermerk »Nur Deutschen zur Kenntnis«. Anscheinend hat die Bundeswehr auch vor ihren NATO-Partnern ein paar kleine Geheimnisse.

Aus dem Feldjägerbericht wird das äußerst geringe Aufklärungsinteresse der für den Luftangriff vom 4.September verantwortlichen Bundeswehrführung in Kundus, namentlich des Obersten Georg Klein, deutlich. Beispielsweise unterließ Klein es entgegen den Richtlinien der internationalen Streitkräfte in Afghanistan (ISAF) und der Bundeswehr, sogleich (»zeitnah«) nach dem Angriff eine Untersuchung der Folgen im Zielgebiet einzuleiten. Den deutschen Feldjägern, die anscheinend eigeninitiativ ermittelten, bot sich dort am folgenden Tag »ein offensichtlich deutlich veränderter Ereignisort, der einen geradezu stark gereinigten Eindruck hinterläßt. Es sind nur noch minimale Spuren von Humanmaterial zu finden, weder Tote noch Verletzte sind vor Ort.« Und: »Am Ort des Vorfalls sind nur noch verbrannte/zerstörte materielle Überreste, einige Tierkadaver und Fahrzeugwracks zu sehen, Kollateralschäden sind nirgends wahrzunehmen.« Daher, so ihre Schlußfolgerung, könne nicht nachvollzogen werden, wie viele Personen sich zur Zeit des Angriffs im Zielgebiet befanden, wie viele Opfer es gab und welche »Veränderungen der Spurenlage am Ereignisort vorgenommen wurden«. Zur Erinnerung: Die Bundeswehr und das Verteidigungsministerium versuchten anfangs, die Zahl der Getöteten stark herunterzuspielen. Während sie von 56 sprachen, steht inzwischen fest, daß es über 140 Tote gab.

Im Feldjägerbericht wird außerdem bemängelt, daß aus den Unterlagen, die den Ermittlern zur Verfügung gestellt wurden, nicht eindeutig ersichtlich sei, welcher Personenkreis an Kleins Entscheidung für den Bombenangriff auf die um zwei Tanklastwagen versammelte Menschenmenge beteiligt war. Klein habe aus nicht erklärten Gründen weder seinen Rechtsberater hinzugezogen noch sich mit übergeordneten Stellen wie etwa seinem direkten Vorgesetzten, dem Brigadegeneral Jörg Vollmer als Chef des Regionalkommandos Nord, in Verbindung gesetzt. Ob Klein verpflichtet gewesen wäre, vor seinem Angriffsbefehl Vollmer zu konsultieren, ist allerdings ungeklärt.

Die bisher vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, daß Kleins Ziel darin bestand, möglichst viele Menschen, die sich um die beiden Tankwagen versammelt hatten, töten zu lassen. Er forderte deshalb den Abwurf von sechs Bomben; gewährt wurden ihm schließlich »nur« zwei. Daß in der Menschenmenge viele Nichtkombattanten waren, wußte Klein aus den Mitteilungen der US-Piloten. Diese hatten deshalb vorgeschlagen, die Menge durch Tiefflugmanöver zu zerstreuen, statt sie anzugreifen. Klein lehnte ab und bestand auf seinem Massaker. Ob er dabei auch die »gezielte Tötung« von zwei oder vier Taliban-Führern im Blick hatte, die er angeblich am Ort vermutete, ist ungewiß.

So oder so handelte es sich, wenn man die Beurteilungen durch den »Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien« zum Maßstab nimmt, um Kriegsverbrechen. Nicht wegen der »gezielten Tötungen«, über deren prinzipielle Rechtmäßigkeit unterschiedliche Auffassungen bestehen, sondern wegen der absehbaren hohen Verluste unter den anwesenden Nichtkombattanten, sprich den Dorfbewohnern, die herbeigeeilt waren, um etwas Benzin aus den Tankwagen zu holen.

Damit verstieß Klein sogar gegen die aktuellen Einsatzregeln, die der Oberkommandierende der ISAF und der US-Streitkräfte in Afghanistan, General Stanley McChrystal, nach seinem Amtsantritt im Juni erlassen hatte. Klein »erschlich« sich den Luftangriff durch falsche Angaben: Indem er wahrheitswidrig mitteilen ließ, es gebe bereits »Feindberührung« – was die Anwesenheit deutscher Soldaten vor Ort vorausgesetzt hätte – und indem er behauptete, die Situation stelle eine Bedrohung für die Bundeswehrtruppen dar.

Vor diesem Hintergrund erklärte der Sprecher des Bundeswehrverbands, Wilfried Stolze, am Montag: »Wir sagen, daß der Skandal nicht darin liegt, was in Kundus am 4. September passiert ist. Dort haben Soldaten ihre Pflicht getan. Und zu diesen Soldaten stehen wir.« – Stolze scheint damit für einen nicht geringen Teil des deutschen Offizierskorps zu sprechen, der der Meinung ist, die Bundeswehr stünde über nationalem und internationalem Recht.

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